Es ist schon richtig lange her, seitdem ich hier das letzte mal diese Buchempfehlungssache gemacht habe, wahrscheinlich noch auf dem alten Blog, ich hab nämlich auf die schnelle keinen der Beiträge mehr gefunden. Da ich aber zur Zeit tatsächlich mal wieder zum Lesen komme, möchte ich das gerne wieder aufnehmen. Keine Ahnung, ob euch das interessiert 😀 Aber ich hab gerade ein wirklich fantastisches Buch entdeckt, von dem ich vorher noch nie gehört hatte und mir völlig zufällig einfach für vier Euro aus einer Ramschkiste entgegen gesprungen ist, darüber muss ich einfach mit jemandem sprechen.
“Das Zimmer” von Andreas Maier erzählt im Prinzip nur den typischen Tagesverlauf von “J”. Passieren tut nicht viel. Genau so wie ich es gern habe. “J” ist der Onkel des Erzählers, welcher sich in einer fantastisch unaufgeregten Art und Weise an den kindlich naiven Sozialversager erinnert und von dessen Leben und Heimatstadt erzählt.
Man springt so oft zwischen Mitleid mit dem naturverbunden, einsamen Muttersöhnchen mit leichter geistiger Behinderung und der Abscheu vor ihm als ungewaschenen, gewalttätigen Alkoholiker hin und her wie der Erzähler zwischen der ausschweifenden Beschreibung der gesamten Umgebung, der Großmutter, der Dorfbewohner, der Umgehungsstraße und einem Tag im Leben seines Onkels. Das klingt alles erstmal langweilig, aber wer auf diese Art von Geschichten steht, bei denen man nur kurz in das Leben einer Person eintaucht und sie kennen lernt, der wird es lieben. Der Schreibstil hat es mir definitiv angetan. Der Erzähler versucht sich in die Gedankenwelt seines Onkels hinein zu versetzen, wodurch man gleichzeitig viel über ihn selbst als auch über J erfährt. Das alles als Bericht getarnt aber doch immer sehr humorvoll und wertend. Außerdem mit einer der schönsten Beschreibungen eines Sonnenaufgangs am Berg, die ich bis jetzt gelesen hab. Ich war auf jeden Fall super begeistert, vielleicht ein bisschen mehr, weil ich das Buch so ins Blaue hinein gekauft hatte und dann überrascht war, dass es mir tatsächlich gut gefällt 😀 Aber gut ist es definitiv.
“Allerdings war mein Onkel einer der ganze wenigen Menschen, die von sich aus nicht zum Sadismus neigten. Menschen um der Unterhaltung und der Freude willen zu quälen, das gab er nicht her. […] Ich kann ihn mir auch nicht vorstellen als jemanden, der spaßeshalber Insekten oder Singvögel zerteilt oder der, wie es bei uns in der Nachbarschaft früher üblich war, Meerschweinchen gegen die Wand wirft, um zu sehen, was passiert… ein Sport unter Kindern Anfang der siebziger Jahre, als Meerschweinchen in Mode waren. Fast alle Meerschweinchen in meiner Umgebung waren zum Tode verurteilt, wenn es Kinder in der Familie gab. […] Und immer schien es eine Art Generationenvertrag zwischen den Eltern und den Kindern zu geben, als sei Sinn des Haustiers, daß die Kinder im Kleinen üben könnten, was sie später im Großen zu erledigen hätten, es war eine Schlächterei wie im Bürgerkrieg oder vielleicht eine Ersatzhandlung dafür, als gehörte das zum Menschen unabdingbar dazu, was sie ja vielleicht auch glaubten, auch wenn sie es nicht aussprachen. Nein, mein Onkel wurde nur dann aggressiv und schlagbereit, wenn er auf etwas reagierte, es mußte dem ein von außen kommender Reiz vorausgehen. Er neigte aber überhaupt erst in der zweiten Hälfte seines Lebens zum Zuschlagen, wenn er zu sehr gequält wurde, da quälten aber nur noch wir ihn, wir Kinder, die Bad Nauheimer schlugen bei ihm nicht mehr zu. Und genauso, wie er fremdes und eigenes Zuschlagen nach kurzem wieder aus seiner Erinnerung gelöscht hatte, vergaß er, stelle ich mir vor, alles das, mit dem er dem Gesetz widersprach, ebenso schnell wieder. […]
Aber weil er so wehrlos war, ging er immer wieder unter.”